17. September: Hildegard von Bingen

Kaum eine Heilige wird so zweckentfremdet wie die heutige Tagesheilige Hildegard von Bingen, an deren Grab ich vor zwei Jahren beten durfte. Insbesondere die Esoteriker machen aus ihren Naturkunde-Schriften eine regelrechte Alchemie. Hildegard ist dabei gar nicht kanonisiert, mittlerweile jedoch zur Kirchenlehrerin ernannt und ihr Gedenktag zum Fest erhoben. In diesem Jahr merken wir nichts davon, weil ihr Tag auf einen Sonntag fällt – und dieser steht wie immer über Festen und Gedenktagen.
Hildegard ist Klostergründerin, Äbtissin und Mystikerin, die um 1098 in Bermersheim geboren und am 17. September 1179 auf dem Rupertsberg in Bingen gestorben ist.
Hildegard lebte ihrer Zeit voraus in vielerlei Hinsicht. Bevor der Begriff „farm-to-table“ ein Begriff war, lebte sie ganz biologisch. Bevor alternative Medizin in Mode kam, katalogisierte sie die medizinischen Vorteile von Kräutern, Pflanzen, Mineralien und Tränken. Und bevor irgendjemand „grün“ wurde, um den Planeten Erde zu retten, sprach sie über die „viriditas“ oder Grünheit Gottes, d. h. darüber, wie seine Gnade eine ausgetrocknete Seele bewässert, bis sie mit frischem, grünem Leben erblüht. Hildegard wurde in eine kleine Adelsfamilie geboren. Ihre Mutter und ihr Vater gaben sie im zarten Alter von acht Jahren zur Erziehung in die Obhut einer bekannten Äbtissin, wo sie Latein und die Lehren der katholischen Religion lernte. In den vier Wänden ihres einfachen Benediktinerklosters vertiefte und erweiterte sich ihre Welt. Als ihre Mentorin starb, wurde Hildegard Äbtissin und verlegte das Kloster – was zu einigen Spannungen führte – an einen neuen Ort, wo es besser gedeihen konnte, da ihr Ruhm immer mehr Aufmerksamkeit und Berufungen nach sich zog. Hildegard war eine Universalgelehrte mit eklektischen Interessen in zahlreichen Fachgebieten. Sie war eine hochentwickelte und produktive Komponistin geistlicher Musik, deren umfangreiches Werk die Produktion fast aller anderen mittelalterlichen Musiker übertrifft. Sie verfügte über ein fortgeschrittenes Verständnis der Medizin und des menschlichen Körpers, einschließlich eines nahezu vollständigen Wissens über den Blutkreislauf im Körper – vier Jahrhunderte bevor dieses Wissen durch postmortale Studien verifiziert wurde. Hildegard besaß auch detaillierte Kenntnisse über die Tier- und Pflanzenwelt, über Gesteine, Reptilien, Fische und die Naturwissenschaften im Allgemeinen. Wenn sie jedoch vor allem für eines bekannt sein sollte, dann für ihre pyrotechnischen Visionen von Gott und dem Kosmos. Hildegards farbenprächtige Visionen lassen sich nur schwer einordnen. Sie beschrieb sie als ein hellwaches spirituelles Bewusstsein des „Widerscheins des lebendigen Lichts“. Von Kindheit an spürte sie, wie sich ihr ganzer Körper – Knochen, Nerven, Adern, Sinne – immer höher in das Himmelsgewölbe erhob, wo sie die ganze Schöpfung in ihrer Besonderheit und in ihrem Einssein erlebte. Es handelte sich nicht um Ekstasen oder körperliche Versetzungen, sondern um eine mit offenen Augen und allen Sinnen wahrgenommene Erfahrung von Predigten, Tugenden, Schriften und anderen menschlichen Handlungen, als ob sie wie die Sonne auf der spiegelnden Oberfläche eines Sees schimmern würden. Das übergreifende Thema dieser Visionen war die mystische Vermählung zwischen Gott und seiner Schöpfung durch die Inkarnation Jesu Christi, eine Vereinigung, die am Kreuz vollzogen wurde, wo Christus seine Braut, die Kirche, für die Menschheit fruchtbar macht. Als Hildegards Schriften immer bekannter wurden, wurde der Papst um seine Einschätzung ihrer theologischen Rechtgläubigkeit gebeten. Papst Eugen III. billigte Hildegards Beschreibung ihrer Visionen, mit der vorsichtigen Warnung, Hildegard solle sich nicht damit brüsten, so gesegnet zu sein. Der große Bernhard von Clairvaux, ein berühmter Zeitgenosse Hildegards, wurde ebenfalls nach seiner Meinung über ihre Schriften gefragt, und die beiden tauschten Briefe aus. In der Tat korrespondierten viele Menschen, sowohl einfache als auch hohe, mit Hildegard und hinterließen einen der umfangreichsten Bestände an erhaltenen Briefen aus dem Mittelalter. In ihren letzten Lebensjahren genoss Hildegard trotz ihres schlechten Gesundheitszustands ein derartiges Ansehen, dass sie die Erlaubnis erhielt, ihr Kloster zu verlassen, um auf Plätzen und in Kirchen zu predigen, was für eine Frau ihrer Zeit fast unerhört war. Sie starb im Stand der Heiligkeit am 17. September 1179, dem Tag, an dem heute ihr liturgisches Gedenken gefeiert wird. In der päpstlichen Bulle von 2012, mit der sie zur Kirchenlehrerin erklärt wurde, schrieb Papst Benedikt XVI., dass „das Korpus ihrer Schriften in Bezug auf Quantität, Qualität und Vielfalt der Interessen von keiner anderen Autorin des Mittelalters übertroffen wird“.

Hier kommen Sie zu den Sonntagslesungen: https://magstrauss.com/2020/09/13/24-sonntag-im-jahreskreis/

Ihre Magstrauss


Ein Kommentar zu „17. September: Hildegard von Bingen

  1. Heute von der Esoterik „zweckentfremdet“ zu werden, diese Formulierung trifft in besonders ausgeprägter Weise auf die heilige Hildegard von Bingen zu, in nahezu allen esoterischen Bereichen beruft man sich auf sie. Immerhin bleibt sie so auch dort in Erinnerung.

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