15. Sonntag im Jahreskreis

Dtn 30,10-14; Ps 19,8.9.10.11-12; Kol 1,15-20; Lk 10,25-37

Dtn 30
10 Denn du hörst auf die Stimme des HERRN, deines Gottes, und bewahrst seine Gebote und Satzungen, die in dieser Urkunde der Weisung einzeln aufgezeichnet sind, und kehrst zum HERRN, deinem Gott, mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele zurück.
11 Denn dieses Gebot, auf das ich dich heute verpflichte, geht nicht über deine Kraft und ist nicht fern von dir.
12 Es ist nicht im Himmel, sodass du sagen müsstest: Wer steigt für uns in den Himmel hinauf, holt es herunter und verkündet es uns, damit wir es halten können?
13 Es ist auch nicht jenseits des Meeres, sodass du sagen müsstest: Wer fährt für uns über das Meer, holt es herüber und verkündet es uns, damit wir es halten können?
14 Nein, das Wort ist ganz nah bei dir, es ist in deinem Mund und in deinem Herzen, du kannst es halten.

In der ersten Lesung hören wir einen Ausschnitt aus dem Buch Deuteronomium. Es ist eine einzige Abschiedspredigt des Mose kurz vor dem Einzug des Gottesvolkes ins gelobte Land. Mose selbst darf nicht mit einziehen und hat deshalb diese letzten mahnenden Worte, die das gesamte Gesetz nochmal zusammenfassen. Deshalb heißt das Buch „deuteros nomos“, zweites Gesetz oder Wiederholung des Gesetzes. Der heutige Ausschnitt geht den sonst oft zu hörenden mahnenden Worten von Segen und Fluch voraus, die Gott uns vorlegt, damit wir wählen.
Der erste gehörte Vers ist das Ende der sogenannten Heimkehrverheißung. Es ist eine Heilsverheißung, bei der Gott ankündigt, dass Israel ihm treu sein wird. Es wird auf seine Stimme hören und seine Gebote halten. Es wird diese aber nicht nur aus Pflicht oder Angst halten, sondern mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele.
Dann entfaltet sich ein Argumentationsgang, der zeigt, wie diese Gebote Gottes sind: Sie sind machbar. Sie sind umsetzbar und nicht weit weg, sodass man erst eine Abenteuerreise vornehmen muss, um überhaupt von ihnen zu erfahren. Das besondere am jüdischen und christlichen Glauben ist die Offenbarung. Gott hat von sich aus den ersten Schritt gemacht und sich den Menschen immer wieder kundgetan. Er hat von sich aus den Menschen gezeigt und erklärt, wie er ist. Der Mensch musste nur die Ohren spitzen und es annehmen. Ausgehend von dieser Begegnung mit Gott verpflichtet Gott die Menschen auf seine Gebote. In Exodus hieß es bereits, dass Gott Mose von Aug zu Aug die Gebote übergeben hat. Das ist ein wichtiger Grundsatz bis heute und das müssen wir einmal richtig verstehen, um viele Missstände auch der heutigen Zeit zu überwinden: Gott erwartet von uns die Treue aus der Begegnung mit ihm heraus. Am Anfang jeglicher Moral steht die Begegnung mit ihm. Zuerst muss es uns auch als Kirche darum gehen, eine solche Begegnung herzustellen und zu fördern. Wir müssen uns mit allen Kräften darum bemühen, jedem einzelnen Menschen die Begegnung mit dem lebendigen Gott zu ermöglichen. Davon ausgehend werden sie die Gebote halten, weil sie sie aus Liebe halten werden. Die Zehn Gebote werden mit „du sollst“ oder „du sollst nicht“ übersetzt. Genauer genommen muss man das Hebräische aber übersetzen mit „du wirst“. Wer die Gebote betrachtet als Gabe von Gott, der „von Aug zu Aug“ mit uns redet, wird nichts anderes wollen, als diese Gebote zu halten. Augustinus fasst es zusammen mit dem Ausdruck: „Liebe und tue, was du willst.“ Wer Gott wirklich liebt, der wird nichts anderes wollen als das, was Gott will.
Die Gebote Gottes sind machbar und gehen nicht über unsere Kräfte hinaus. Es ist in unserem Herzen und in unserem Mund. Warum? Im Mund, weil wir die Gebote immer wieder thematisieren, darüber sprechen und deshalb gegenwärtig halten, es weitererzählen und verkünden. In unserem Herzen sind die Gebote nicht nur, weil wir sie darin einschreiben und verinnerlichen. Uns sind die Gebote aufs Herz geschrieben durch die Taufe, die ein unauslöschliches Siegel auf unserer Seele ist. Was hier so optimistisch ausgedrückt wird, ist leider in der Umsetzung nicht so leicht: Die Israeliten werden immer wieder vom Glauben abfallen und Götzen dienen. Sie werden immer wieder die schmerzhaften Konsequenzen zu spüren bekommen. Der Mensch neigt zum Bösen und aus eigener Kraft scheitert er immer wieder. Umso überwältigender, dass der Herr bereit war, uns zu erlösen und uns in der Taufe die heiligmachende Gnade zu verleihen! Dadurch müssen wir die Gebote Gottes nicht mehr aus eigener Kraft halten, da diese von Natur aus zerstört ist, siehe Erbsünde. Vielmehr dürfen wir sie mithilfe der Gnade Gottes halten. Und wo wir dann immer noch scheitern, schenkt er uns die Chance zur Umkehr. So groß und barmherzig ist unser Gott!

Ps 19
8 Die Weisung des HERRN ist vollkommen, sie erquickt den Menschen. Das Zeugnis des HERRN ist verlässlich, den Unwissenden macht es weise. 
9 Die Befehle des HERRN sind gerade, sie erfüllen das Herz mit Freude. Das Gebot des HERRN ist rein, es erleuchtet die Augen. 
10 Die Furcht des HERRN ist lauter, sie besteht für immer. Die Urteile des HERRN sind wahrhaftig, gerecht sind sie alle. 
11 Sie sind kostbarer als Gold, als Feingold in Menge. Sie sind süßer als Honig, als Honig aus Waben.
12 Auch dein Knecht lässt sich von ihnen warnen; reichen Lohn hat, wer sie beachtet.

Wir beten heute einen Lobpsalm auf die Schöpfung Gottes und auf seine Weisung, also die Torah. Das passt sehr gut als Antwort auf die Betrachtung der Zehn Gebote. In Vers 8 wird die Vollkommenheit der Weisung gepriesen. Sie „erquickt den Menschen“. Gott gibt keine Gebote auf, die den Menschen einschränken, belasten und unglücklich machen sollen. Es geht immer darum, dass er nur das Beste für den Menschen bereithält und genau weiß, was dieser braucht. Die Torah macht vielmehr frei und bringt dem Menschen Heil. Das haben wir vorhin ja schon bedacht. Deshalb ist es Gottes Timing, die Gebote ausgerechnet nach dem Auszug aus Ägypten zu übergeben.
„Das Zeugnis des HERRN ist verlässlich“ bezieht sich ebenfalls auf die Torah, denn das hebräische Wort עֵד֥וּת edut, das hier mit „Zeugnis“ übersetzt wird, kann auch mit „Gebot“ übersetzt werden. Es macht den Unwissenden weise, denn es ist die Schule Gottes.
Gottes Befehle sind „gerade“ und „erfüllen das Herz mit Freude“. Gott erwartet nichts Unmögliches, bei dem man ganz überfordert ist. Die Geradlinigkeit steht für die Nachvollziehbarkeit und Machbarkeit. Die Gebote erfüllen mit Freude, weil Gott den Menschen glücklich machen möchte. Er gibt keine tausend Gebote und Verbote. Er gibt eine überschaubare Menge an Geboten, zehn Stück, an zwei Händen abzählbar.
Gottes Weisung ist rein und erleuchtet die Augen. Sie ist ganz frei von bösen Absichten und Hinterhältigkeit. Sie ist so, dass sie den Weg vor dem Menschen erkennbar macht und er erkennt, wie er sich verhalten soll. Auch in Vers 10 wird mit ähnlichen Ausdrücken wiederholt, dass Gottes Weisung wahr und gerecht ist. Dort ist aber auch die Rede von der Gottesfurcht, die lauter ist. Dieses uns kaum noch geläufige Wort ist ein Synonym für „rein“ und soll verdeutlichen, dass die Gottesfurcht bei der Befolgung der Torah essenziell ist. Sie bedeutet, dass wir Angst haben, Gott zu beleidigen und damit die Beziehung zu ihm zu zerstören.
Gottes Torah ist wertvoller als Gold, weil sie uns zum ewigen Leben verhilft. Sie ist köstlicher als Honig, was als der Süßstoff schlechthin galt. Sie schmeckt süß, weil sie den Menschen erquickt (siehe oben). Gott ist ein Gott des Lebens und was er uns schenken möchte, ist ein gutes Leben voller Glückseligkeit.
Auch David bemüht sich, die Gebote zu halten, auch wenn es nicht immer klappt. Er versündigt sich sogar sehr schwer, wenn er die Ehe bricht und den betrogenen Mann absichtlich im Krieg fallen lässt. David ist der Begierde anheimgefallen, der Begierde nach der Frau eines anderen. Das ist eine Sünde gegen das neunte Gebot. Die Konsequenzen hat er deutlich zu spüren bekommen. Umso mehr kann er betonen, dass die Menschen auf Gottes Gebote achten sollen, damit sie ein gutes Leben haben.
Danken auch wir dem Herrn für seine Gebote, denn sie machen auch uns heute glücklich! Wir werden mit dem Segen Gottes ganz überschüttet, wenn wir uns immer um seinen Willen bemühen. Und wenn wir fallen, weil wir schwache Menschen sind, die auch nach der Taufe zum Bösen neigen, dann ist Gott noch so barmherzig, dass er uns bei aufrichtiger Reue die Schuld vergibt! Er schenkt uns sogar das Sakrament der Versöhnung, damit wir wieder rein und untadelig vor ihm stehen dürfen! Wie groß ist Gottes Gnade und wie sehr möchte er, dass wir glücklich werden!

Kol 1
15 Er ist Bild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene der ganzen Schöpfung.

16 Denn in ihm wurde alles erschaffen im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare, Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten; alles ist durch ihn und auf ihn hin erschaffen.
17 Er ist vor aller Schöpfung und in ihm hat alles Bestand.
18 Er ist das Haupt, der Leib aber ist die Kirche. Er ist der Ursprung, der Erstgeborene der Toten; so hat er in allem den Vorrang.
19 Denn Gott wollte mit seiner ganzen Fülle in ihm wohnen,
20 um durch ihn alles auf ihn hin zu versöhnen. Alles im Himmel und auf Erden wollte er zu Christus führen, der Frieden gestiftet hat am Kreuz durch sein Blut.

In der zweiten Lesung beginnt eine allsonntägliche Reihe aus dem Kolosserbrief. Wir hören den Anfang des Hauptteils. In diesem betet Paulus einen Christushymnus, der voller tiefgründiger Überlegungen ist. Paulus bezeichnet Jesus mit vielen theologischen Begriffen, die wir sehr lange betrachten können. Zunächst einmal nennt er Jesus das „Bild des unsichtbaren Gottes“. Wie ist das zu verstehen? Gott ist Geist. Er ist eigentlich unsichtbar, nicht fassbar bzw. immer nur so viel begreiflich, wie er sich uns Menschen offenbart. Er hat dies immer wieder getan mit einer unglaublich pädagogischen Sensibilität, um den Menschen nie zu überfordern. Wir haben seine Offenbarung schon in den letzten Lesungen betrachtet. Mit seiner Menschwerdung in Jesus Christus hat diese Selbstoffenbarung Gottes aber ihren Höhepunkt erreicht. Gott hat ein Gesicht bekommen, in das wir hineinschauen können. Nicht nur das. Jesus zeigt den Menschen mit seinem ganzen Wesen, mit seinen Worten, seinen Taten, mit jedem Atemzug, wer Gott ist. Er ist wirklich zu einem Bild Gottes geworden, zu einer Ikone. Der Sohn zeigt den Vater und dies sagt er gerade im Johannesevangelium immer wieder zu den Menschen: Wer mich sieht, sieht den Vater.
Jesus ist der „Erstgeborene der ganzen Schöpfung“. Das muss man richtig verstehen, damit man es nicht arianisch auffasst. Die Arianer gingen davon aus, dass Jesus nicht gezeugt, sondern geschaffen ist wie wir. Er ist zwar der Höchste, aber eben nur ein Geschöpf in ihren Augen. Wir beten deshalb im großen Glaubensbekenntnis ganz deutlich: „Gezeugt, nicht geschaffen“ und „eines Wesens mit dem Vater“. Er ist Gott. Er ist aber geboren – nämlich durch eine Jungfrau. Er ist zum ersten Menschen der neuen Schöpfung geworden, zum Adam der neuen Schöpfung aus dem Hl. Geist. Dieser Schöpfung gehören wir an, wenn wir uns taufen lassen. Es ist eine neue Schöpfung, die nicht mehr dem Verfall anheimfällt, sondern das ewige Leben bei Gott hat – und zwar ganz, also mit Leib und Seele. Als neuer Adam dieser neuen Schöpfung ist er uns vorausgegangen in die Ewigkeit, um mit Leib und Seele beim Vater zu sein. Auch wir werden die leibliche Auferstehung erfahren als Teil dieser neuen Schöpfung, doch erst am Ende der Zeiten. Er ist Erstgeborener in diesem Sinne. Er ist der neue Adam. Er ist es aber noch in einem anderen Sinne und da müssen wir berücksichtigen, dass es ein Hymnus ist: Jesus ist vor aller Zeit, er ist im Anfang beim Vater. Er ist Erstgeborener im bildhaften Sinne, so wie „Vater“ und „Sohn“ Bilder sind. Sie sind ja nicht Vater und Sohn in dem Sinne, wie wir es von uns her kennen. Das Verhältnis von Vater und Sohn geht über unsere irdischen Erfahrungen hinaus. Jesus ist schon, bevor die Welt geschaffen wird. Er ist sogar beteiligt am Schöpfungsakt, denn er ist der Logos, das Wort aus dem Mund des Vaters. Er ist Schöpfungsmittler, durch den alles geschaffen ist. Er ist die Logik hinter den Naturgesetzen, hinter der Ordnung des gesamten Universums. Es ist nicht nur alles durch ihn geschaffen, sondern auch auf ihn hin. Er ist das Ziel der gesamten Schöpfung. Er ist das Ziel der gesamten Weltgeschichte. Alles läuft fluchtpunktartig auf ihn zu. Das gilt nicht nur für die sichtbare Welt, also für das Diesseits, sondern auch für die unsichtbare Welt der Engel.
Paulus macht einen fließenden Übergang zur Kirche. Der springende Punkt ist nämlich, dass sie der sichtbare Teil der neuen Schöpfung hier auf Erden ist! Und weil Christus auch das Haupt der anderen Schöpfungsbereiche ist, ist er es in der Kirche. Er ist das Haupt und die Kirche der Leib. Es ist ein einziger lebendiger Organismus. Dieses Bild verwendet Paulus für die Kirche sehr häufig. Hier geht er weniger darauf ein, sondern reiht verschiedene theologische Begriffe aneinander. Ein Hymnus hat es an sich, dass verschiedene Bezeichnungen für Gott aneinandergereiht werden.
Noch einmal wird Jesus als Erstgeborener angerufen – und nun betont Paulus die Toten. So wie Jesus der Erstgeborene der neuen Schöpfung im Hl. Geist ist, so geht er uns allen voraus in die Ewigkeit als Auferstandener von den Toten. Er hat in allem den Vorrang, nicht nur zeitlich, sondern auch in der Hierarchie der Familie Gottes. Er ist der älteste Sohn und wir werden nie in demselben Sinne Kinder Gottes sein wie er es ist. Wir werden nie zu Göttern werden. Wir werden immer Menschen bleiben, aber dürfen in die Liebesgemeinschaft des dreifaltigen Gottes hineintreten. Diese Liebesgemeinschaft deutet Paulus durch die Worte der „ganzen Fülle“ an. Es ist ein einziger trinitarischer Akt, nicht nur die alte und neue Schöpfung hervorzubringen, sondern auch die ganze Welt zu erlösen. Die vielen trinitarischen Kreuze mit Gott Vater und den Hl. Geist als Taube über dem Haupt Christi fassen diese tiefe Wahrheit künstlerisch zusammen.
Jesus hat am Kreuz Frieden gestiftet. Dass er zu seinen Aposteln als Auferstandener kommen und ihnen seinen österlichen Frieden wünschen kann, hat mit diesem Ereignis zu tun. Jesus hat den Frieden gebracht, denn er ist der Friedensfürst. Er hat nicht das Blut von anderen Menschen vergossen, hat nicht mit Waffen von Menschen gekämpft, sondern sein eigenes Blut vergossen und eine Schlacht auf geistlicher Ebene geführt.

Lk 10
25 Und siehe, ein Gesetzeslehrer stand auf, um Jesus auf die Probe zu stellen, und fragte ihn: Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu erben?

26 Jesus sagte zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du?
27 Er antwortete: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele, mit deiner ganzen Kraft und deinem ganzen Denken, und deinen Nächsten wie dich selbst.
28 Jesus sagte zu ihm: Du hast richtig geantwortet. Handle danach und du wirst leben!
29 Der Gesetzeslehrer wollte sich rechtfertigen und sagte zu Jesus: Und wer ist mein Nächster?
30 Darauf antwortete ihm Jesus: Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn halbtot liegen.
31 Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging vorüber.
32 Ebenso kam auch ein Levit zu der Stelle; er sah ihn und ging vorüber.
33 Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam zu ihm; er sah ihn und hatte Mitleid,
34 ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann hob er ihn auf sein eigenes Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn.
35 Und am nächsten Tag holte er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für ihn, und wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme.
36 Wer von diesen dreien meinst du, ist dem der Nächste geworden, der von den Räubern überfallen wurde?
37 Der Gesetzeslehrer antwortete: Der barmherzig an ihm gehandelt hat. Da sagte Jesus zu ihm: Dann geh und handle du genauso!

Heute hören wir das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Die Vorgeschichte ist folgende: Ein Gesetzeslehrer stellt Jesus die Frage: „Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu erben?“ Das ist eine entscheidende Frage. Wie erhalten wir Menschen das ewige Leben? Dass ein Gesetzeslehrer diese Frage stellt, ist nicht selbstverständlich. Nicht alle religiösen Gruppen zur Zeit Jesu glauben an ein Leben nach dem Tod, so lehnen es die Sadduzäer ab, die ja die religionspolitische Elite jener Zeit darstellen.
Jesus möchte diesem Mann mit seiner eigenen Mentalität zur Antwort verhelfen – indem er das Gesetz befragt. Hier meint das Gesetz die Torah. Der Gesetzeslehrer arbeitet tagtäglich mit den Hl. Schriften der Juden und so geht Jesus auf diese ein. Der Mann antwortet wahrheitsgemäß mit dem Doppelgebot der Liebe – zunächst mit Dtn 6,4-9, dem Sch’ma Israel, dann mit Lev 19,18, dem Aufruf zur Nächstenliebe.
Weil er richtig geantwortet hat, lobt Jesus ihn und sagt ihm zu, dass wenn er danach handelt, das ewige Leben erlangen wird.
Der Gesetzeslehrer lässt das aber nicht so stehen und fragt nach: Wer ist mein Nächster? Und so beginnt Jesus das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Es ist eine Erzählung, die zu den bekanntesten Schriftworten zählt. Und doch wird die Geschichte oft falsch verstanden. Umso aufmerksamer müssen wir sie nun hören, um sie richtig zu verstehen:
Ein Mann geht von Jerusalem nach Jericho hinab und wird unterwegs von Räubern überfallen. Schon allein diese Aussage muss genau verstanden werden, damit es nicht zu einer Fehlinterpretation kommt. Es handelt sich um einen Mann, dessen Nationalität uns unbekannt sind. Und dennoch können wir vermuten, dass es ein Jude ist. Warum? Er ist unterwegs von Jerusalem nach Jericho, was vielleicht darauf hindeutet, dass er bei einem Wallfahrtsfest oder allgemein beim Tempel war und nun auf der Rückreise ist. Wenn wir auch bedenken, dass gleich noch weitere Personen diesen Weg wählen werden – von Jerusalem nach Jericho – handelt es sich vielleicht um die Wallfahrtssaison. Man weiß nichts von dem Mann und er liegt halbtot und ausgeraubt danieder.
Dann kommt ein Priester denselben Weg hinab. Wir betonen: Er kommt von Jerusalem und ist unterwegs nach Jericho. Er lässt den Mann dort liegen, obwohl er ihn sieht. Es wird nun immer wieder interpretiert, dass er aufgrund der kultischen Verunreinigung beim Kontakt mit Blut oder Tod nicht eingreift. Er kann von weitem ja nicht erkennen, ob der Mann wirklich tot ist oder noch lebt. Ausgehend davon wird auf das Priestertum des Alten Bundes sowie auf die Priester des Christentums geschimpft, dass ihnen der Gottesdienst wichtiger ist als die Nächstenliebe. Wir hören dann oft Predigten, in denen zur tätigen Nächstenliebe aufgerufen wird und Gottesdienst, Liturgie schlecht gemacht werden, so als ob die Diakonia vor der Leiturgia komme. Darum geht es hier aber nicht. Der Priester im Gleichnis kommt von der Opferung im Jerusalemer Tempel. Er hat dies schon getan und ist auf dem Heimweg! Was hier also kritisiert werden muss, ist nicht der Jerusalemer Tempelkult, sondern dass sich die Gnade, die der Priester durch die Opferung erhalten hat, nicht im Alltag bewährt. Er hat nun die Chance, die Liebe, die er von Gott selbst empfangen hat, an den Nächsten weiterzugeben. Stattdessen lässt er ihn liegen. Selbst wenn er in dem Moment kultunfähig werden würde, wäre das doch unwichtig! Er hat das Opfer ja schon dargebracht. Dennoch geht er an dem Halbtoten vorbei.
Ebenso kommt nun ein Levit an ihm vorbei und hilft genauso wenig wie der Priester. Auch er hat seinen Dienst im Tempel bereits vollzogen. Warum hilft er dem Mann nun nicht? Gottes- und Nächstenliebe gehören zusammen. Wenn Gott uns mit seiner Liebe überschüttet und uns segnet, dann möchte er, dass wir das auch unserem Nächsten weitergeben. Wir sollen doch barmherzig wie der Vater im Himmel sein. Und das Wort für die Barmherzigkeit ist im Griechischen dasselbe Wort für Mitleid. Diese beiden haben die Zeit der Gnade nicht erkannt, die empfangene Liebe Gottes an den Nächsten weiterzugeben.
Doch dann kommt ein Samariter. Ausgerechnet ein Erzfeind der Juden! Mit diesen sprechen die Juden nicht. Doch dieser hat Mitleid mit dem Halbtoten. Er weiß ja nicht, was das für ein Mensch ist. Doch er hilft ihm, verbindet seine Wunden, bringt ihn auf seinem Esel zu einer Herberge und bezahlt seinen Aufenthalt.
Dieser Mann ist dem Halbtoten der Nächste geworden, weil er Mitleid hatte. So sollen wir alle Mitleid haben, wenn wir Not sehen. Und Liebe kennt keine Grenzen. Es spielt keine Rolle, welche Nationalität, Religion, welches Geschlecht etc. der Leidende hat.
Warum hat Jesus ausgerechnet einen Priester und einen Leviten zum Negativbeispiel gemacht, wenn er den Kult an sich nicht kritisiert? Hier spricht Jesus ja mit einem Gesetzeslehrer, einem angesehenen Juden. Er provoziert hier ganz bewusst mit der vermeintlichen Elite, damit gerade jene mit religiöser Verantwortung sich an die eigene Nase fassen und ihr Verhalten überdenken. Viele dieser Menschen seiner Zeit nutzen ihre Position aus, um geachtet zu werden, besondere Privilegien zu genießen, aber nicht als besonders enge Beziehung zum Herrn. Ihnen fehlt oft die Liebe und der persönliche Bezug zu Gott. Deshalb nennt Jesus gerade jene. Er möchte, dass auch sie zur Besinnung kommen und umkehren.
Jesus schließt das Gespräch mit den Worten: Dann geh und handle genauso!“ Das ist ein Aufruf nicht nur an den Gesetzeslehrer im Evangelium. Das ist auch ein Appell an uns, genauso zu handeln. Nehmen wir Jesu Worte ernst und seien wir den anderen Menschen der oder die Nächste. Schließlich überschüttet Gott uns tagtäglich mit seinem Segen. Die Liebe Gottes ist immer überfließend und so ist es an uns, die Gottesliebe anderen Menschen weiterzugeben und nicht bei uns zu behalten.

Heute hören wir viel von den Geboten Gottes, seiner Offenbarung und wie wir diese umsetzen sollen. Die Zehn Gebote sind ja eine Entfaltung des Doppelgebots der Liebe. Die ersten drei Gebote betreffen die Gottesliebe, die nächsten sieben die Nächstenliebe. Wenn wir wirklich ganz in Gott verliebt sind, drängt uns diese Liebe auch dazu, einander der oder die Nächste zu sein. Dann werden wir einen Halbtoten am Straßenrand nicht liegen lassen, sondern ihm helfen – nicht weil wir müssen oder aus Angst vor der Strafe Gottes, sondern weil wir die Situation dann sehen werden, wie Gott sie sieht.

Ihre Magstrauss

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