In den Tagen vor Weihnachten werden in der Liturgie der Kirche die O-Antiphonen gebetet bzw. gesungen. Sie sind ein Countdown bis Heiligabend. Was sind aber diese O-Antiphonen genau? Ursprünglich sind sie vorgesehen im Stundengebet, deshalb auch der Begriff Antiphon. Sie sind Antiphonen zum Magnificat in der Vesper. Aber warum ummanteln sie das Magnificat? Dieses ist ja der Lobpreis Mariens im Anschluss an die Worte der Elisabet. Dom Prosper Gueranger sagt über diesen Zeitpunkt im Stundengebet: „Die Stunde der Vesper wurde als die am besten geeignete Zeit für dieses feierliche Flehen an unseren Erretter ausgewählt, denn wie die Kirche in einer ihrer Hymnen singt, kam der Messias am Abend der Welt (vergente mundi vespere) zu uns. Diese Antiphonen werden im Magnificat gesungen, um uns zu zeigen, dass der Erretter, den wir erwarten, von Maria zu uns kommen soll.“ Seit 1970 werden sie auch in die Hl. Messe integriert, als Ruf vor dem Evangelium. Antiphon im engeren Sinne meint einen Kehrvers, der einen Gesang oder einen Psalm rahmt. Antiphonaler Gesang im Allgemeinen heißt auf Deutsch „Wechselgesang“ und meint eine Singweise, die zu unterscheiden ist vom Responsorialgesang. Es sind also zwei Gruppen, die sich abwechseln, statt ein Vorsänger und eine ihm antwortende Gemeinde (responsorial=antwortend). „Die O-Antiphonen mit ihrer sehnsüchtigen Erwartungsstimmung bilden einen Höhepunkt der Adventsliturgie. In siebenfacher Anrufung werden alttestamentliche Theologumena auf Christus bezogen“, so Egbert Ballhorn. Was aber ist ein Theologumenon? Es meint einen Begriff, der theologisch aufgeladen ist. So steht hinter dem Begriff „Messias“ z.B. die lange Tradition des Alten Testaments. Wörtlich heißt es zunächst einmal „Gesalbter“, doch wir wenden ihn mittlerweile auf den einen Gesalbten an, auf Jesus Christus. Die in den O-Antiphonen verwendeten Theologumena sind Ausdrücke der Sehnsucht, die im Alten Testament zum Ausdruck kommt. Sie wurden als Mosaik des Alten Testaments beschrieben, denn sie umfassen Weisheitsliteratur, die Torah und die prophetische Literatur. Jesus wird unter einer Reihe von Titeln angerufen, die größtenteils dem Propheten Jesaja in einer scheinbar absichtlichen Reihenfolge entnommen wurden. Vielleicht kann man die wachsende Intensität spüren, wenn jeder der sieben Abende vergeht, denn diese Antiphonen bitten Christus mit zunehmender Dringlichkeit, zu kommen, um sein Volk zu retten. Heute sind es sieben Antiphonen, im Mittelalter gab es zwölf.
Die O-Antiphonen beginnen jeweils mit einem Anruf, der mit einem „O“ begleitet wird, deshalb die Bezeichnung. Daraufhin wird ein Bildname auf Christus bezogen, an den sich meistens ein Relativsatz anschließt, der die Anrufung vertieft. Im zweiten Teil der Antiphon folgt immer wieder der Imperativ „veni“, also „komm“ verbunden mit einer Bitte.
Die Reihenfolge der Strophen ist keinesfalls zufällig gewählt. Sie lässt eine heilsgeschichtliche Chronologie erahnen, begonnen mit der Weisheit, die existiert, bevor alles geschaffen wurde, und endet mit dem Immanuel, der Bezeichnung für den Messias, der an Weihnachten geboren wird. Liest man die ersten Buchstaben der Antiphonen rückwärts, ergibt es als Akronym ERO CRAS – ich werde morgen da sein. Wörtlich: ich werde morgen sein. Der „Ich bin“ ist Gott selbst, ein Hinweis auch auf den Gottesnamen im Dornbusch, dessen Anrufung am zweiten Tag der Antiphonen erfolgt und mit dem Immanueltitel in Christus einen Höhepunkt erreicht. Die Folge der Anfangsbuchstaben ergibt auch Sinn, wenn wir gemäß der ältesten Textüberlieferung die 8. Strophe „O Virgo virginum“ hinzunehmen, die es nicht mehr gibt; aus ERO („Ich werde dasein“) wird dann VERO CRAS =„Wahrhaft morgen!“ Und die Achtzahl ist die Zahl der messianischen Zeit. So oder so wird uns bewusst: Die O-Antiphonen, die am 23. Dezember enden, weisen auf den nächsten Tag.
Nach dieser Einführung in die O-Antiphonen beginnen wir mit dem heutigen ersten Tag:
O Weisheit, Du bist aus dem Munde des Allerhöchsten hervorgegangen, umfassest alles von einem Ende zum andern und ordnest es machtvoll und sanft. Komm, uns den Weg der Klugheit zu lehren.
O Sapientia, quae ex ore Altissimi prodiisti, attingens a fine usque ad finem, fortiter suaviterque disponens omnia: veni ad docendum nos viam prudentiae.
Hier eine Betrachtung in Videoform:
Hier kommen einige biblische Einbettungen:
Spr 8,22
22 Der HERR hat mich geschaffen als Anfang seines Weges, vor seinen Werken in der Urzeit
Weish 7-8
22 In ihr ist nämlich ein Geist, vernunftvoll, heilig, einzigartig, mannigfaltig, zart, beweglich, durchdringend, unbefleckt, klar, unverletzlich, das Gute liebend, scharf, 23 nicht zu hemmen, wohltätig, menschenfreundlich, fest, sicher, ohne Sorge, alles vermögend, alles überschauend und alle Geister durchdringend, die gedankenvollen, reinen und zartesten. 24 Die Weisheit ist beweglicher als alle Bewegung; in ihrer Reinheit durchdringt und durchwaltet sie alles. 25 Sie ist ein Hauch der Kraft Gottes und reiner Ausfluss der Herrlichkeit des Allherrschers; darum dringt nichts Verunreinigtes in sie ein. 26 Sie ist der Widerschein des ewigen Lichts, der ungetrübte Spiegel von Gottes Kraft, das Bild seiner Güte. 27 Sie ist nur eine und vermag doch alles; ohne sich zu ändern, erneuert sie alles. Von Geschlecht zu Geschlecht tritt sie in heilige Seelen ein und schafft Freunde Gottes und Propheten; 28 denn Gott liebt nur den, der mit der Weisheit zusammenwohnt. 29 Sie ist schöner als die Sonne und übertrifft jedes Sternbild. Sie erweist sich strahlender als das Licht; 30 denn diesem folgt die Nacht, doch über die Weisheit siegt keine Schlechtigkeit. 1 Sie entfaltet ihre Kraft von einem Ende zum andern und durchwaltet voll Güte das All.
Weish 9
9 Mit dir ist die Weisheit, die deine Werke kennt und die zugegen war, als du die Welt erschufst. Sie weiß, was wohlgefällig ist in deinen Augen und was recht ist nach deinen Geboten. 10 Sende sie vom heiligen Himmel und schick sie vom Thron deiner Herrlichkeit, damit sie bei mir sei und alle Mühe mit mir teile und ich erkenne, was wohlgefällig ist bei dir! 11 Denn sie weiß und versteht alles; sie wird mich in meinem Tun besonnen leiten und mich in ihrem Lichtglanz schützen.
Jesajas Prophezeiung, Jes 11,2-3 – der Messiasprophet schlechthin
2 Der Geist des HERRN ruht auf ihm: der Geist der Weisheit und der Einsicht, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN. 3 Und er hat sein Wohlgefallen an der Furcht des HERRN. Er richtet nicht nach dem Augenschein und nach dem Hörensagen entscheidet er nicht.
Betrachtung von Dom Prosper Gueranger:
O ungeschaffene Weisheit, die du so nahe bist, dich für deine Kreaturen sichtbar zu machen, du verfügst wirklich über alle Dinge. Mit deiner Erlaubnis erlässt der Kaiser Augustus ein Dekret, das die Eintragung der ganzen Welt anordnet. Jeder Bürger des riesigen Reiches soll seinen Namen in der Stadt seiner Geburt eintragen lassen. Dieser Prinz [gemeint ist der Kaiser] verfolgt kein anderes Ziel mit dieser Anordnung, die die Welt in Bewegung setzt, als seinen eigenen Ehrgeiz. Millionen Menschen gehen hin und her, und eine ungebrochene Prozession durchquert die unermessliche römische Welt. Menschen denken, sie tun das Gebot des Menschen, und es ist Gott, dem sie gehorchen. Diese weltweite Aufregung hat wirklich nur einen Zweck; es ist, einen Mann und eine Frau nach Bethlehem zu bringen, die in Nazareth in Galiläa leben, damit diese Frau, die der Welt unbekannt, aber dem Himmel lieb ist und die am Ende des neunten Monats ist, seit sie ihr Kind gezeugt hat, dieses Kind in Bethlehem gebären kann; denn der Prophet hat über ihn gesagt: „Sein Hervorgang ist von Anfang an, von den Tagen der Ewigkeit an. Und du, Bethlehem! bist nicht zuletzt unter den tausend Städten Judas, denn aus dir wird er hervorgehen. “O göttliche Weisheit! Wie stark bist du darin, deine Ziele mit Mitteln zu erreichen, die unfehlbar, wenn auch verborgen sind? und doch, wie süß, ohne den freien Willen des Menschen einzuschränken; und trotzdem, wie väterlich, für unsere Bedürfnisse zu sorgen! Du wählst Bethlehem für deinen Geburtsort, weil Bethlehem das Haus des Brotes bedeutet. Darin lehrst du uns, dass du unser Brot bist, die Nahrung und Unterstützung unseres Lebens. Mit Gott als Nahrung können wir nicht sterben. O Weisheit des Vaters, lebendiges Brot, das vom Himmel herabgestiegen ist, kommt schnell in uns hinein, damit wir uns Dir nähern und durch Dein Licht und durch diese Klugheit, die zur Erlösung führt, erleuchtet werden.