Mein Sonntags-Senf #4 – Schluss mit dem Sündenbock-Spiel

Liebe Freunde,

am 25. Januar wurde der Missbrauchsbericht der EKD durch den Forschungsverbund „ForuM – Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland“ veröffentlicht. Das Ergebnis ist unfassbar. Doch es zeigt auch auf, was viele immer wieder vergeblich versucht haben, in Debatten zu verdeutlichen: Missbrauch ist eben kein Spezifikum der Katholischen Kirche, wie durch die tendenziöse Berichterstattung der letzten Jahre immer wieder behauptet worden ist. Auch das Narrativ eines signifikanten Zusammenhangs zwischen Zölibat und Missbrauch wird hinfällig, da die evangelische Kirche keinen Zölibat vorschreibt. Die Argumentationsfiguren des Synodalen Weges sind in sich zusammengefallen wie ein Kartenhaus.

Einige Grunddaten im Überblick:

Laut Missbrauchsbericht geht es um 1259 Beschuldigte in Pfarrgemeinden und diakonischen Einrichtungen. Es geht um 2225 Betroffene von Missbrauch ab dem Jahre 1946. Grundlage des Berichts stellen 4300 Disziplinarakten, 780 Personalakten und 1320 sonstige Quellen dar. Das ist laut Koordinator des Forschungsverbunds eine hochselektive Stichprobe, die „in keiner Weise das wahre Ausmaß der sexualisierten Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie“ darstellt. Bei der Vorstellung der Studie wurde verdeutlicht, dass die Landeskirchen nur bedingt kooperiert haben. Von 20 evangelischen Landeskirchen hat nur eine auch Personalakten, nicht nur Disziplinarakten bereitgestellt. Die Personalakten der einen Landeskirche lassen darauf schließen, dass 57% der Beschuldigten und 73,9 % der Betroffenen sich erst mit der Einsicht der Personalakten erschlossen haben. Das heißt, dass die Zahlen der anderen Landeskirchen, die keine Personalakten geliefert haben, wohl auch höher anzusetzen sind. Rechnet man dies durchschnittlich einmal hoch, könnte man durchaus auf 3497 Beschuldigte und 9.355 Betroffene kommen. Ich möchte die Zahlen der MHG-Studie zum Vergleich anbringen (obwohl ich einiges an dieser Studie zu kritisieren habe und auch ein Vergleich nur bedingt angemessen ist): Es wurden für den Zeitraum von 1945 bis 2014 rund 40 000 Personalakten einbezogen und man kam am Ende auf 1670 Beschuldigte sowie 3677 Betroffene.

Die böse katholische Kirche?

Bei der Pressekonferenz zur Vorstellung des Missbrauchsberichts sprach auch die Betroffene Katharina Kracht. Sie brachte unverblümt zur Sprache: „Ich bin überzeugt. Das Narrativ, in der evangelischen Kirche gebe es weniger sexualisierte Gewalt als in der katholischen Kirche, wird sich nicht mehr halten lassen.“ Sie ist Sprecherin der Betroffenenvertretung im Beteiligungsforum der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und setzt sich seit Jahren für die Aufarbeitung des Missbrauchs in der evangelischen Kirche ein. Sie sagt immer wieder, dass es oft bei schönen Worten bleibt. Sie spricht auch über Vertuschungsmechanismen – die „männerbündischen Strukturen“ der katholischen Kirche, wie immer wieder vorgeworfen wird, sind in der evangelischen Kirche nicht vorhanden und doch gibt es auch in der EKD Vertuschung.

Wer ist betroffen?

Aus Gesprächen mit Betroffenen – so Prof. Wazlawik bei der Vorstellung des Berichts – geht hervor, dass unterschiedliche Konstellationen von Missbrauch vorherrschen, Berichte aus jeglichen Handlungsfeldern der evangelischen Kirche und Diakonie mit Kindern und Jugendlichen kommen, schwere psychische und körperliche Folgen daraus entstehen sowie ein immenser Vertrauensverlust aufgrund der zunächst positiv erfahrenen Arbeit der evangelischen Kirche vor dem Missbrauch erfolgt ist. Wie auch in der katholischen Kirche führte die Missbrauchserfahrung bei vielen zu einer Abwendung von der Kirche und von Gott.

Weitere Zahlen

Ein zweiter Zugang zur Thematik erfolgte über Befragung und Aktenstudium, insbesondere was bekannte Fälle anbelangt und aus Meldestellen sowie Anerkennungskommissionen bekannt ist. Wichtig war auch die Abgleichung mit Disziplinarakten. Der signifikante Unterschied von Personalakten ist weiter oben bereits angesprochen worden. Das durchschnittliche Alter der Betroffenen bei bekannten Fällen liegt in Landeskirchen sowie Diakonie bei ungefähr 11 Jahren. Die Disziplinarakten zeigen einen Mittelwert von etwa 13 Jahren. Bei der Geschlechterverteilung fällt auf, dass die bekannten Fälle in Landeskirchen 54% männliche Betroffene, 46% weibliche Betroffene, laut Disziplinarakten 45% männliche und 55% weibliche Betroffene sowie in diakonischen Werken 82% männliche und 18% weibliche Betroffene umfasst. Die Täter sind bei Verübung der Ersttat im Durchschnitt 43 Jahre alt, die Spanne, um die es aber geht, beträgt 17 bis 78 Jahre. Fast die Hälfte der Täter wurde mehrfach beschuldigt, im Durchschnitt fallen fünf Betroffene auf einen Mehrfachtäter. Fast 68% der Täter sind verheiratet und 17% ledig. Ein zölibatärer Lebensstil scheint also nicht signifikant zu Missbrauch beizutragen und auch Wazlawik warnt in der Vorstellung des Berichts davor, Risikofaktoren vorschnell anzunehmen. Erschütternd ist seine Einschätzung: Das sind wahrscheinlich nicht die realen Zahlen, sondern nur die Spitze des Eisbergs. Nicht mal. Wazlawik betont – es ist die Spitze der Spitze des Eisbergs. Das Ausmaß werde unterschätzt. Schon allein die fehlenden Personalakten deuten darauf hin. Die Zahlen legen in keiner Weise – so heißt es bei der Präsentation des Berichts – eine geringere Zahl an Beschuldigten in der evangelischen Kirche und Diakonie nahe.

Täterprofile und Umgang mit Missbrauchstaten

Die meisten Fälle sind von Männern verübt worden und die Faktoren, die Missbrauch ermöglicht haben, sind jenen in der katholischen Kirche – und in anderen gesellschaftlichen und institutionellen Kontexten – ähnlich. Es sind immer wieder dieselben Strukturen wie Machtgefälle, Diffusität der (Seelsorge-)Beziehungen und Manipulation. Dass auch die evangelische Kirche ein Problem mit Missbrauch hat, ist erst seit 2018 in öffentlichen Debatten zum Thema geworden. Aussagen der Betroffenen offenbaren: Die evangelische Kirche hat das Selbstverständnis einer Nulltoleranz-Politik bei konkreten Fällen nicht umgesetzt, sondern sich häufig inadäquat verhalten: „institutionelle Trägheit, keine Rückmeldung, Verweis auf juristische Logik, Pathologisierung der Betroffenen.“ Betroffene sind auch oft als ein Gegenüber der Kirche konstruiert, obwohl sie ja Teil der Kirche sind, sogar selbst Pfarrer als Betroffene. Wazlawik bringt es auf den Punkt: „Hier kann man eher von Abarbeiten sprechen als von Aufarbeiten.“ Der Umgang mit Akten sei sehr unterschiedlich von Landeskirche zu Landeskirche. Viele Akten seien vernichtet und Protokolle bei Meldung von Missbrauch nicht angefertigt worden, was die Prozesse insgesamt erschwert hätte. Auch bei Anerkennungsleistungen habe sich eine Intransparenz gezeigt. Schutzkonzepte hätten flächendeckend nicht bestanden und auch Schulungskonzepte seien nur mangelhaft bereitgestellt worden. Jede vierte Landeskirche gab an, dass sexualisierte Gewalt ein Tabu ist.

Aufarbeitung in der evangelischen Kirche

Einige Spezifika von Missbrauch in der evangelischen Kirche: Heterogenität im Umgang mit Missbrauch durch föderale Struktur, Verantwortungsdiffusion und -delegation, reaktive Aufarbeitung (ohne das Anstoßen von Betroffenen passierte nichts), Unvorstellbarkeit sexualisierter Gewalt aufgrund eines positiven Images, Progressivität hinsichtlich gesellschaftlicher Liberalisierungstendenzen, Harmonisierungstendenz (als Lösungsstrategie erwartete man von den Betroffenen, ihren Tätern zu vergeben), Aufrechterhaltung/Erzwingung eines Milieus von Geschwisterlichkeit.

Und der Synodale Weg?

DBK und ZdK schweigen bis heute zu diesem neuen Missbrauchsbericht. Es stellt sich auch die Frage, wie man angemessen darauf reagieren soll, ohne sich selbst ins Fleisch zu schneiden. Das Argumentarium des Synodalen Weges ist mit diesem Bericht und der nun angestoßenen Debatte im öffentlichen Diskurs hinfällig geworden. Die evangelische Kirche kennt keine Hierarchie und patriarchale Strukturen im katholischen Sinne, sondern die Synode steht über dem Landesbischof. Man hat kein Weihesakrament, keinen Zölibat, Frauen können Pfarrer sein, man kann heiraten, sich scheiden lassen, neu heiraten, in homosexuellen Beziehungen leben und darüber einen YouTube-Kanal betreiben wie das lesbische Pfarrer-Paar „Anders Amen“. In der evangelischen Kirche ist man gesellschaftlich angepasst auch in Bezug auf die Sexualmoral und die Gendertheorie. All das, was in den vier Foren des Synodalen Weges angestrebt worden ist, gibt es bereits in der evangelischen Kirche. Diese ist den Weg bereits gegangen und es zeigt sich: Das hat den Missbrauch nicht verhindert. Kein Wunder also – Schweigen und Aussitzen des Präsidiums des Synodalen Weges scheint momentan die Strategie zu sein. Zu offensichtlich ist dessen gesamte Grundlage wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen.

Ihre Magstrauss

Ein Kommentar zu „Mein Sonntags-Senf #4 – Schluss mit dem Sündenbock-Spiel

  1. Liebe Margarete,

    dieses Ergebnis aus dem Mißbrauchsbericht der EKD ist meines Erachtens weniger „unfaßbar“; es war vielmehr genauso mit erschüttendsten Inhalten zu erwarten.

    Der „böse Bube“ katholische Kirche ist damit nicht reingewaschen, aber alle Grundlagen für einen „Synodalen Weg“ in der katholischen Kirche sind damit ganz offiziell ausgewischt.

    Die katholischen und die evangelischen Täter sind Einzeltäter, wie auch die in Sport, Schule oder Beruf, oder wo sonst noch Abhängigkeitsverhältnisse bestehen.

    „Die Befürworter drastischer Reformen in der katholischen Kirche mögen einfach in die evangelische Kirche konvertieren. Dort sind alle ihre Reformforderungen erfüllt, denn dort gibt es keinen Zölibat, eine freizügigere Sexuallehre, Pfarrerinnen und sogar Bischöfinnen; und dennoch existiert auch dort sexueller Mißbrauch in vergleichbarer Anzahl der Fälle wie in der katholischen Kirche.“, schrieb ich schon im August 2019 in einem Leserbrief an die „hna“, die regionale Tageszeitung für Kassel und Nordhessen.

    Ganz herzlichen Dank für Deinen heutigen Sonntags-Senf, den sich die DBK und das ZdK nun gerne in aller (Senf-)Schärfe auf ihre synodalen Spezialitäten schmieren lassen darf.

    Herzliche und marianische Grüße

    Dein Paul

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